Sonntag, 5. Mai 2019

Eine erste Bilanz...

…ist jetzt eigentlich passend, denn nun haben wir die 90 Tage, die uns als Tourist zustehen, überschritten und den Schritt hin zu einem vertieften Aufenthalt in Brasilien gemacht. Zwei Tage vor Ablauf der Frist und mit insgesamt „nur“ 5 Stunden Wartezeit in der Polícia Federal wurden wir in die Legalität überführt. Meine Arbeitserlaubnis habe ich auch endlich. Zwar hat der Visa-Prozess insgesamt fast ein Jahr gedauert und war gespickt mit vielen Neuheiten und administrativen Hürden (wie viele Dokumente man braucht und dass man jeden kleinen Kram auch immer noch beglaubigen bzw. überbeglaubigen lassen muss, glaubt man gar nicht), aber glücklicherweise lief unser Visa-Prozess letztlich relativ problemlos, vergleicht man dies mit derzeit zwei Kollegen, deren Visa-Verlängerung nicht geklappt hat und die nun irgendwie nicht so recht einen Status hier haben…
Neulich fuhr ich mit einem Kollegen in einem 45-Jahre alten VW-Käfer abends durch die City ins Kneipenviertel von São  Paulo, die Vila Madalena. In einer wohl recht populären Choro-Bar (Choro ist ein brasilianischer Musikstil mit Samba, Bossa Nova, Jazz und anderen Einflüssen) um eine Band zu hören, dessen führendes Mitglied wir eine Woche zuvor auf der Ilha Grande kennengelernt hatten. Ludwig kommt aus Bayern und spielt mit seiner Band Choro in Verbindung mit bayerischer Volksmusik – und kaum zu glauben: das passt. So hatten wir einen sehr schönen Abend mit guter Musik und guten Tänzern und guten Getränken… Irgendwann mussten wir zurück, nur leider mochte der Käfer nicht mehr, sodass wir ihn in einer Seitenstraße abstellen mussten, um ihn am nächsten Tag abzuholen. Und Zack: am nächsten Tag kein Käfer mehr weit und breit. Dabei sagte Andreas vorher noch, dass ihm in knapp zwei Jahren in dieser Stadt nichts passiert sei und er sich in SP absolut sicher fühle. Welch Ironie…
Von Schattenseiten des Lebens in Brasilien blieben wir aber bisher verschont (wenn man die verrückten Behörden und lästigen Internetanbieter mal ausklammert). Dennoch heißt es nach wie vor, aufmerksam bleiben.
Die Natur haben wir ja in vorherigen Beiträgen bereits blumig geschildert und auch die Stadt als Lebensraum fand hier und da Erwähnung. Aber was ist eigentlich mit den Menschen?
Da sind die Deutschsprachigen. Naturgemäß derzeit die wichtigste Peergroup. Sie erleichtern das Ankommen doch sehr, da sie aus einer Vielzahl von (ähnlichen) Erfahrungen zehren. Bisweilen führt dies zu widersprüchlichen Einschätzungen von Situationen (wo und welches Auto kaufen, wie wohnen, welchen Internetanbieter wählen – alles sehr unterschiedlich in der Einschätzung), aber insgesamt ist es sehr hilfreich. Auch hätte ich die Quote derer, die sich aus ihrer deutschen Herkunft heraus erhaben fühlen, deutlich höher eingeschätzt. Im Gegenteil, die Leute / Kollegen, die hier länger leben, sind sehr darum bemüht, Brasilien auch gesellschaftlich näher zu kommen und hiesige Dinge anzunehmen. Die Ausnahmen gibt es natürlich auch. Diejenigen, die meinen hier ein bisschen die Wohlstandsprivilegien auszunutzen und dies nicht zwingend verstecken…
Da sind die brasilianischen Kollegen. Herzlich sind sie (zumindest die meisten), jedoch vertieft sich die Bindung noch nicht so sehr, vor allem aufgrund der Sprachbarriere. Leider pflegen einige wenige aber auch bewusst Distanz, sei es weil die Deutschen sowieso nur für kurze Zeit da sind, sei es weil diese so horrend viel mehr Geld bekommen (die Lehrer hier verdienen einen Sch… im Vergleich zum deutschen Gehalt, dafür müssen sie teilweise bis zu 38 Stunden unterrichten, bisweilen auch an zwei bis drei verschiedenen Standorten. Wer will ihnen da einen gewissen Groll verübeln.) Aber wir nähern uns Stück für Stück an…
Da sind die brasilianischen Besonderheiten. Zum Einen ist es nach wie vor sehr gewöhnungsbedürftig, Hausangestellte zu haben. Das sogenannte Empregada-System ist hier aber unumgänglich. Zumal man tatsächlich (und das ist nicht gönnerhaft gemeint) Menschen ein Gehalt gibt. Dadurch bekommt man aber natürlich auch ein bisschen mit, in welcher Lebenssituation sich der mit Abstand größte Teil der Brasilianer befindet (und wie verdammt gut es uns eigentlich geht). Gerade weil Personalkosten in diesem Land spottbillig sind, gibt es auch für jeden Kram jemanden, der ihn erledigt. Wenigstens heißt es, dass gerade die Deutschen die Preise für Hausangestellte hochtreiben, weil sie meist deutlich überdurchschnittlich zahlen. Immerhin, aber irgendwie auch zwiespältig…
Und dann gibt es die andere Seite der Brasilianer. Diejenigen, die sich ihren Körper tunen, die halbnackt dann durch den Ibirapuera-Park joggen und gesehen werden wollen. Die ihre 4-jährigen Töchter schminken und diese dann zusammen mit ihren Girlie-Freundinnen in einer Stretch-Limo in den teuren Freizeitpark in der Mall kutschieren lassen (letztes Wochenende gerade beobachtet). Und dann diese Handys. Tennis-Arm war gestern, die neue Diagnose für Sehnenscheidenentzündung heißt: Selfie-Arm. In einem Kindertheaterstück wurde tatsächlich gesellschaftskritisch der Umgang mit dem Handy thematisiert – unter den wachsamen Augen unzähliger filmender Handys – welch wunderbare, ungewollte Live-Parodie.
Irgendwo zwischen Elend und Glamour gibt es aber viel Platz für die lebensfrohe brasilianische Mentalität, die sich in Hilfsbereitschaft, Musikalität und Offenheit ausdrückt und uns hier eine schöne Zeit beschert.
Apropos Handy: Leider ist mein Handy neulich abgeschmiert. Tag 1: Was für ein Desaster. Tag 2: Verschiedene Optionen der reconnection ausprobieren (darunter auch ein Systemwechsel zum Apfel erwogen). Tag 3: Ich lebe noch und halte rudimentär Kontakt zur Außenwelt durch Lenas Handy. Tag 4: Vielleicht lässt sich das ja doch reparieren. Erst nächste Woche? Ok, kein Problem. Tag 5: Entspannt…

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