…ist jetzt eigentlich passend, denn nun haben wir die 90
Tage, die uns als Tourist zustehen, überschritten und den Schritt hin zu einem
vertieften Aufenthalt in Brasilien gemacht. Zwei Tage vor Ablauf der Frist und
mit insgesamt „nur“ 5 Stunden Wartezeit in der Polícia Federal wurden wir in
die Legalität überführt. Meine Arbeitserlaubnis habe ich auch endlich. Zwar hat
der Visa-Prozess insgesamt fast ein Jahr gedauert und war gespickt mit vielen
Neuheiten und administrativen Hürden (wie viele Dokumente man braucht und dass
man jeden kleinen Kram auch immer noch beglaubigen bzw. überbeglaubigen lassen
muss, glaubt man gar nicht), aber glücklicherweise lief unser Visa-Prozess
letztlich relativ problemlos, vergleicht man dies mit derzeit zwei Kollegen,
deren Visa-Verlängerung nicht geklappt hat und die nun irgendwie nicht so recht
einen Status hier haben…
Neulich fuhr ich mit einem Kollegen in einem 45-Jahre alten
VW-Käfer abends durch die City ins Kneipenviertel von São Paulo, die Vila Madalena. In einer wohl recht
populären Choro-Bar (Choro ist ein brasilianischer Musikstil mit Samba, Bossa
Nova, Jazz und anderen Einflüssen) um eine Band zu hören, dessen führendes
Mitglied wir eine Woche zuvor auf der Ilha Grande kennengelernt hatten. Ludwig
kommt aus Bayern und spielt mit seiner Band Choro in Verbindung mit bayerischer
Volksmusik – und kaum zu glauben: das passt. So hatten wir einen sehr schönen
Abend mit guter Musik und guten Tänzern und guten Getränken… Irgendwann mussten
wir zurück, nur leider mochte der Käfer nicht mehr, sodass wir ihn in einer Seitenstraße
abstellen mussten, um ihn am nächsten Tag abzuholen. Und Zack: am nächsten Tag
kein Käfer mehr weit und breit. Dabei sagte Andreas vorher noch, dass ihm in
knapp zwei Jahren in dieser Stadt nichts passiert sei und er sich in SP absolut
sicher fühle. Welch Ironie…
Von Schattenseiten des Lebens in Brasilien blieben wir aber bisher
verschont (wenn man die verrückten Behörden und lästigen Internetanbieter mal
ausklammert). Dennoch heißt es nach wie vor, aufmerksam bleiben.
Die Natur haben wir ja in vorherigen Beiträgen bereits
blumig geschildert und auch die Stadt als Lebensraum fand hier und da
Erwähnung. Aber was ist eigentlich mit den Menschen?
Da sind die Deutschsprachigen. Naturgemäß derzeit die
wichtigste Peergroup. Sie erleichtern das Ankommen doch sehr, da sie aus einer
Vielzahl von (ähnlichen) Erfahrungen zehren. Bisweilen führt dies zu
widersprüchlichen Einschätzungen von Situationen (wo und welches Auto kaufen,
wie wohnen, welchen Internetanbieter wählen – alles sehr unterschiedlich in der
Einschätzung), aber insgesamt ist es sehr hilfreich. Auch hätte ich die Quote
derer, die sich aus ihrer deutschen Herkunft heraus erhaben fühlen, deutlich
höher eingeschätzt. Im Gegenteil, die Leute / Kollegen, die hier länger leben,
sind sehr darum bemüht, Brasilien auch gesellschaftlich näher zu kommen und
hiesige Dinge anzunehmen. Die Ausnahmen gibt es natürlich auch. Diejenigen, die
meinen hier ein bisschen die Wohlstandsprivilegien auszunutzen und dies nicht
zwingend verstecken…
Da sind die brasilianischen Kollegen. Herzlich sind sie
(zumindest die meisten), jedoch vertieft sich die Bindung noch nicht so sehr,
vor allem aufgrund der Sprachbarriere. Leider pflegen einige wenige aber auch
bewusst Distanz, sei es weil die Deutschen sowieso nur für kurze Zeit da sind,
sei es weil diese so horrend viel mehr Geld bekommen (die Lehrer hier verdienen
einen Sch… im Vergleich zum deutschen Gehalt, dafür müssen sie teilweise bis zu
38 Stunden unterrichten, bisweilen auch an zwei bis drei verschiedenen
Standorten. Wer will ihnen da einen gewissen Groll verübeln.) Aber wir nähern
uns Stück für Stück an…
Da sind die brasilianischen Besonderheiten. Zum Einen ist es
nach wie vor sehr gewöhnungsbedürftig, Hausangestellte zu haben. Das sogenannte
Empregada-System ist hier aber unumgänglich. Zumal man tatsächlich (und das ist
nicht gönnerhaft gemeint) Menschen ein Gehalt gibt. Dadurch bekommt man aber
natürlich auch ein bisschen mit, in welcher Lebenssituation sich der mit
Abstand größte Teil der Brasilianer befindet (und wie verdammt gut es uns
eigentlich geht). Gerade weil Personalkosten in diesem Land spottbillig sind,
gibt es auch für jeden Kram jemanden, der ihn erledigt. Wenigstens heißt es,
dass gerade die Deutschen die Preise für Hausangestellte hochtreiben, weil sie meist
deutlich überdurchschnittlich zahlen. Immerhin, aber irgendwie auch zwiespältig…
Und dann gibt es die andere Seite der Brasilianer. Diejenigen,
die sich ihren Körper tunen, die halbnackt dann durch den Ibirapuera-Park
joggen und gesehen werden wollen. Die ihre 4-jährigen Töchter schminken und
diese dann zusammen mit ihren Girlie-Freundinnen in einer Stretch-Limo in den
teuren Freizeitpark in der Mall kutschieren lassen (letztes Wochenende gerade
beobachtet). Und dann diese Handys. Tennis-Arm war gestern, die neue Diagnose
für Sehnenscheidenentzündung heißt: Selfie-Arm. In einem Kindertheaterstück
wurde tatsächlich gesellschaftskritisch der Umgang mit dem Handy thematisiert –
unter den wachsamen Augen unzähliger filmender Handys – welch wunderbare,
ungewollte Live-Parodie.
Irgendwo zwischen Elend und Glamour gibt es aber viel Platz
für die lebensfrohe brasilianische Mentalität, die sich in Hilfsbereitschaft,
Musikalität und Offenheit ausdrückt und uns hier eine schöne Zeit beschert.
Apropos Handy: Leider ist mein Handy neulich abgeschmiert. Tag
1: Was für ein Desaster. Tag 2: Verschiedene Optionen der reconnection
ausprobieren (darunter auch ein Systemwechsel zum Apfel erwogen). Tag 3: Ich
lebe noch und halte rudimentär Kontakt zur Außenwelt durch Lenas Handy. Tag 4: Vielleicht
lässt sich das ja doch reparieren. Erst nächste Woche? Ok, kein Problem. Tag 5:
Entspannt…
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