Sonntag, 16. Juni 2019

Man soll die Feste feiern, feiern, feiern…


...wie sie fallen. Das ist wohl das treffende Motto für die vergangenen drei Wochen. Angefangen hatte es mit dem Großereignis „HuMUNited“ an der Schule, von dem wir in einem früheren Beitrag schon berichtet hatten. Es folgte eine sehr schöne Party bei Familie Mebus, die ihren Abschied in ihrem Haus mit Churrasco, Fassbier und Caipirinha und ein bisschen selbstgemachter Live-Musik feierten. Ein Merkmal, was uns bereits auf unserer Party aufgefallen ist: Um Mitternacht war Schluss. Es ist nicht ganz zu erklären, aber womöglich liegt hier eine multikausale Attribuierung vor. Die Wege in São Paulo sind bisweilen etwas länger, obwohl sich die meisten Leute in Interlagos und Santo Amaro tummeln. Oft überschneiden sich Feierlichkeiten und da der Brasilianer nicht Nein sagen kann, ist er dann eben auf 2, 3 oder 4 Partys an einem Tag. Und vielleicht ist es auch die Gewöhnung an derlei Feierlichkeiten, da bestimmte Anlässe, wie Abschiede oder Willkommens (gibt es davon die Mehrzahl?) oder sonstwas in hoher Frequenz stattfinden und natürlich meistens tudo mundo eingeladen wird. Wie auch immer, nach ein paar landestypischen Caipirinha forte ist man ohnehin schnell durch und kriegt so wenigstens noch ein bisschen Schlaf.
Apropos Schlaf: vor zwei Wochen durften wir nun endlich auch mal fühlen, was der brasilianische Winter zu bieten hat. Nachts fiel das Thermometer auf 11°C, was zunächst einmal nicht schlimm klingt. Aber wenn es dann auch noch regnet und stürmt, die Luftfeuchtigkeit sich bei 80 % einpegelt und die kalte Luft überall durch Fenster und Türen schleicht, sich keine Heizung weit und breit findet und Lena sich in drei Schichten gehüllt unter die Decke verkriecht, dann denke auch ich: Sommer war besser! Aber nun hat sich das Wetter wieder etwas beruhigt und die Trockenzeit hat begonnen. Nachts bedeutet dies angenehme 18-20°C und tagsüber 28-30°C und Sonnenschein. Aber auch hier gibt es einen kleinen Nachteil. Die Luft ist plötzlich sehr trocken, worauf sich Haut und Augen erst wieder einstellen müssen, und die Luft wird schlechter, was den Anzeigen auf den Hauptstraßen zu entnehmen ist (gelb ist die mittlere von drei Stufen).
Aber bei dem milden Klima treibt man sich auch nachts gern mal rum. So geschehen am vergangenen Wochenende, als ich mit den „Montagskickern“ in einer Bar um die Ecke war. Besonders daran war der spontane Musikkreis in der Bar. Ein paar Leute packten plötzlich Trommeln und Gitarren aus und spielten brasilianische Volksweisen. Und das steckt sofort an. Eine Kollege quatschte gleich einen Musikanten mit Trommel voll, ob ich die nicht mal spielen könne, denn ich sei ja auch Musiker. Gesagt, gespielt. So war ich dann plötzlich mittendrin und polterte auf dem Trommelchen rum, bis mich nach einer Weile ein Anderer wieder in die Rolle des Studierenden versetzte, denn zugegeben: die Rhythmen sind doch erst mal anders zu spielen.
Das nächste feierliche (Groß-)Ereignis war die Festa Junina in der Schule. Dieses urbrasilianische Volksfest (vergleichbar mit dem Erntedankfest in anderen Regionen des Universums) wird hier besonders groß gefeiert. Fast alle Jahrgangsstufen haben in den letzten Wochen Tänze einstudiert, Dekorationen gebastelt und sonstwas organisiert und natürlich waren unsere Kinder mittendrin. Von zwölf bis acht jagte eine Tanzshow die nächste, spielten Kinder auf Hüpfburgen oder an Spielbuden, aßen und tranken hunderte von Menschen, hörten Live-Musik. Ein echtes Volksfest – an der Schule!  Eigentlich total schön, wenn da nicht überall diese Warteschlangen gewesen wären. Und die Brasilianer scheinen es auch noch zu genießen, den Tag mit Schlangen-Hopping zu verbringen und quatschen und lachen beim Anstehen, als gäbe es nichts Schöneres.
Unbestrittener Höhepunkt im positiven Sinne aber war die Performance der Zwölftklässler. Die Jungs als Mädchen verkleidet und umgekehrt tanzten sie ein durchchoreographiertes, abwechslungsreiches Stück von 35 Minuten. Echt beindruckend. Dafür habe ich gern um die fünf Geschichtsstunden im Vorfeld geopfert.
Und weil die Schule so gern und so groß feiert, wurde bei der Eröffnung der Jogos Humboldt gleich noch einer rausgehauen. Die Jogos sind die jährlichen Sportwettkämpfe, an denen Schülerteams aus ganz Brasilien, aber auch Argentinien, Ecuador, Kanada und manchmal auch aus Deutschland sich über zwei Wochen in den verschiedensten Disziplinen messen. Die Eröffnungsfeier wurde musikalisch mit Orchester und Chor, bei dem ich auch mitwirkte, untermalt. Das klang wirklich toll (trotz oder wegen mir?), bis auf die deutsche Nationalhymne. Wir hatten das vorher nicht geprobt und nur sechs Schüler, eine Kollegin und ich fanden sich bereit, das Lied der Deutschen zu singen. Leider waren die Streicher zu langsam und leise und unser kleiner Gefangenenchor genau das Gegenteil. Sarah Connor hätte sich im Grabe umgedreht, wäre sie schon verstorben und hätte sie die Nationalhymne 2005 damals nicht auch verhauen. So befinden wir uns also plötzlich in einer Tradition mit selbiger, wie schön.
Der Einmarsch der über 50 teilnehmenden Teams mit Schildträgern war indes wieder olympiareif, eine Tanzchoreografie von ca. 60 Schülern allen Alters, die sich mit der WM-Eröffnung messen kann, ein brasilianischer Profi-Leichtathlet als Gastredner und – unglaublich – der Einzug der Fackelläufer mit Entzündung des humboldtschen Feuers. Etwas beschämt erinnerte ich mich an unsere bescheidenen Ausrichtungen der Bundesjugendspiele und Spieletage, obwohl mir schon klar ist, dass hier ganz andere Dinge personell und finanziell möglich sind. Aber ich habe jetzt schon viel Inspiration für Deutschland bekommen.
Zwischen diesen Ereignissen hatte Emily mit ihrer Muttersprachler-Fördergruppe ihre Zirkusshow vor den ersten Klassen. Stolz saß ihr kleiner Bruder in der ersten Reihe und sah, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Emily vor die 60 Kinder stellte und ihre Zaubertricks vorführte. Apropos Muttersprache: Ich bin mittlerweile so sicher im Portugiesischen, dass ich ohne mit der Wimper zu zucken im Café einen Löffel bestellt habe, woraufhin mich der Ober wider Erwarten fragend ansah, bis ich dann nach mehrerem Hin und Her feststellte, dass ich ein Häschen (coelho) statt eines Löffels (colher) bestellt hatte. Da kann man auch mal fragend gucken.
Der eigentliche Höhepunkt der letzten Wochen sollte (eigentlich) das Eröffnungsspiel der Copa America mit Brasilien vs. Bolivien werden. Fußball in Brasilien war ein Pull-Faktor für Lena, aber auch für mich. Mittags wurden in der Schule gleich fünf altgediente deutsche Kollegen (natürlich ausgiebig, denn klein geht nicht) verabschiedet und so begann dann ein lockeres Eintrinken. Der befürchtete Generalstreik in São Paulo störte deutlich weniger als erwartet den Verkehr, sodass wir schon am Nachmittag in Stadionnähe in einer Kneipe saßen. Vom Beginn der Copa America war in den letzten Tagen gar nichts zu merken. Am Tag vorher war ich noch in einer großen Shopping Mall, um mir ein Trikot zu kaufen (falls ich doch noch eingewechselt werden sollte). Das war vielleicht ein Akt. Von ca. 100 Läden hatte genau einer Trikots. Wo ist die legendäre Fußballbegeisterung? Auch in der Kneipe war es zunächst sehr ruhig. Aber eines hat sich mal wieder bestätigt: die Brasilianer sind eher so die Last-Minute-Menschen. Mit zunehmender Dunkelheit wurden die Straßen (und Menschen) rund herum immer voller, überall tummelten sich Samba-Gruppen in einer feiernden Menschentraube. Man spürte plötzlich diese Freude und war mitgerissen von den neuen Gesängen und weniger Gebrülle, wie im guten alten Europa. Eingehüllt in Pyros wälzte sich das Meer von gelben Trikots dann gen Stadion und skandierte gern auch mal „Messi não, Messi não, Messi não não não“. Und neben mir Heiko, ein Referent aus Schwerin, der für ein paar Tage in São Paulo weilte und mit dem ich hier im Schatten des Estadio Morumbi ein paar Heimatmomente hatte.  Es war mittlerweile eine knappe Stunde vor Spielbeginn und ich ärgerte mich, dass wir jetzt mit den tausenden von Last-Minute-Brasilianern gleichzeitig ins Stadion gingen, was natürlich wieder in endlosen Schlangen endete. Aber auch die Hürde war irgendwann genommen und so stand ich zum ersten Mal in Brasilien in einem Stadion, einem richtig klassischen, asketischen, weiten Rund ohne Dach. Es folgte eine nette Eröffnungsfeier, die mit der aus unserer Schule durchaus mithalten konnte, und schon ging es los.
Jetzt würde ich dramaturgisch gern noch etwas draufpacken, aber der Rest des Abends war tatsächlich eher enttäuschend. Keine Fan-Gesänge, einseitige Party ohne große Höhepunkte, ein Elfmeter-Geschenk für Brasilien mit ungefähr 30 Sekunden Jubel (ohne Musikeinspieler) und nach dem Abpfiff waren die Spieler und Zuschauer gleichermaßen schnell aus dem Stadion verschwunden, denn auf eine Ehrenrunde der Spieler hätte man vergeblich gewartet. Die Stimmung im Stadion stand im scharfen Kontrast zur ausgelassenen Stimmung auf der Straße und vielleicht saßen einfach die falschen Leute im Stadion. Diejenigen nämlich, die sich das leisten können und Brasilien die höchsten Eintrittseinnnahmen in einem Spiel in der gesamten brasilianischen Fußballgeschichte beschert haben (Ich habe als Ortslehrkraft nur den halben Eintritt bezahlt und musste trotzdem 68,- Euro für den obersten von drei Rängen bezahlen). Auch ein Spiegel der Gesellschaft, gerade hier in Morumbi, wo Luxus-Condominios mit Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach sich direkt neben Favelas auftürmen. Nichtsdestotrotz scheint der frühere Glanz der Seleção verblasst und das Auftreten der Mannschaft in den letzten Jahren, insbesondere des speziellen Stürmers, hat wohl tatsächlich zu einem Zerwürfnis zwischen Mannschaft und Volk geführt, zu dessen Heilung es einiger Steigerung seitens der Mannschaft bedarf.
So, nun aber genug. Noch zwei Wochen Schule und dann haben wir die ersten großen Ferien. Wir lesen uns wieder aus dem Nordosten. Tschau!
...Kreuzung um die Ecke.



Kontraste an einer...


zu Hause

Geburtstagskinder in der Schule

nach der Schule

Turnwettkampf bei den Jogos Humboldt

Emilys Turngruppe...

und Einzel

schöne Blume in unserem Garten

alberner Helge - äh- Juli


Folklore beim Festa Junina


Julis Klasse bei der Tanzaufführung bei der Festa Junina 
mit skandierenden Elternhänden


Ausschnitt aus dem Volksfest auf dem Schulhof

Emilys Klasse beim Tanz

Zwölftklässler beim Tanz

mit Juli draußen

in Morumbi

tricksen

großes Condomínio

Korrigieren bei 11°C und Strom-/Lichtschwankungen

Man beachte die Windschutzscheibe des LKW.
Bei solch einem Gottvertrauen kann man sich auch das Sichtfenster zukleben.

Kind auf Pferd.

immer wieder schöne Brücke in Morumbi

Favela

"Montagskicker" in der Stadionkneipe

Stadion

Zwei Mecklenburger vor dem Stadion


Vorfreude



Das "Gelbe Meer" liegt nicht in Asien

Juli und Levin auf einer Erwachsenenparty

Was wäre das Leben ohne Smartphones...