...wie sie fallen. Das ist wohl das treffende Motto für die
vergangenen drei Wochen. Angefangen hatte es mit dem Großereignis „HuMUNited“
an der Schule, von dem wir in einem früheren Beitrag schon berichtet hatten. Es
folgte eine sehr schöne Party bei Familie Mebus, die ihren Abschied in ihrem
Haus mit Churrasco, Fassbier und Caipirinha und ein bisschen selbstgemachter
Live-Musik feierten. Ein Merkmal, was uns bereits auf unserer Party aufgefallen
ist: Um Mitternacht war Schluss. Es ist nicht ganz zu erklären, aber womöglich
liegt hier eine multikausale Attribuierung vor. Die Wege in São Paulo sind
bisweilen etwas länger, obwohl sich die meisten Leute in Interlagos und Santo
Amaro tummeln. Oft überschneiden sich Feierlichkeiten und da der Brasilianer
nicht Nein sagen kann, ist er dann eben auf 2, 3 oder 4 Partys an einem Tag.
Und vielleicht ist es auch die Gewöhnung an derlei Feierlichkeiten, da
bestimmte Anlässe, wie Abschiede oder Willkommens (gibt es davon die Mehrzahl?)
oder sonstwas in hoher Frequenz stattfinden und natürlich meistens tudo mundo eingeladen wird. Wie auch
immer, nach ein paar landestypischen Caipirinha
forte ist man ohnehin schnell durch
und kriegt so wenigstens noch ein bisschen Schlaf.
Apropos Schlaf: vor zwei Wochen durften wir nun endlich auch
mal fühlen, was der brasilianische Winter zu bieten hat. Nachts fiel das
Thermometer auf 11°C, was zunächst einmal nicht schlimm klingt. Aber wenn es
dann auch noch regnet und stürmt, die Luftfeuchtigkeit sich bei 80 % einpegelt
und die kalte Luft überall durch Fenster und Türen schleicht, sich keine
Heizung weit und breit findet und Lena sich in drei Schichten gehüllt unter die
Decke verkriecht, dann denke auch ich: Sommer war besser! Aber nun hat sich das
Wetter wieder etwas beruhigt und die Trockenzeit hat begonnen. Nachts bedeutet
dies angenehme 18-20°C und tagsüber 28-30°C und Sonnenschein. Aber auch hier
gibt es einen kleinen Nachteil. Die Luft ist plötzlich sehr trocken, worauf
sich Haut und Augen erst wieder einstellen müssen, und die Luft wird
schlechter, was den Anzeigen auf den Hauptstraßen zu entnehmen ist (gelb ist
die mittlere von drei Stufen).
Aber bei dem milden Klima treibt man sich auch nachts gern
mal rum. So geschehen am vergangenen Wochenende, als ich mit den
„Montagskickern“ in einer Bar um die Ecke war. Besonders daran war der spontane
Musikkreis in der Bar. Ein paar Leute packten plötzlich Trommeln und Gitarren
aus und spielten brasilianische Volksweisen. Und das steckt sofort an. Eine
Kollege quatschte gleich einen Musikanten mit Trommel voll, ob ich die nicht
mal spielen könne, denn ich sei ja auch Musiker. Gesagt, gespielt. So war ich
dann plötzlich mittendrin und polterte auf dem Trommelchen rum, bis mich nach
einer Weile ein Anderer wieder in die Rolle des Studierenden versetzte, denn
zugegeben: die Rhythmen sind doch erst mal anders zu spielen.
Das nächste feierliche (Groß-)Ereignis war die Festa Junina in der Schule. Dieses
urbrasilianische Volksfest (vergleichbar mit dem Erntedankfest in anderen
Regionen des Universums) wird hier besonders groß gefeiert. Fast alle
Jahrgangsstufen haben in den letzten Wochen Tänze einstudiert, Dekorationen
gebastelt und sonstwas organisiert und natürlich waren unsere Kinder
mittendrin. Von zwölf bis acht jagte eine Tanzshow die nächste, spielten Kinder
auf Hüpfburgen oder an Spielbuden, aßen und tranken hunderte von Menschen,
hörten Live-Musik. Ein echtes Volksfest – an der Schule! Eigentlich total schön, wenn da nicht überall
diese Warteschlangen gewesen wären. Und die Brasilianer scheinen es auch noch zu
genießen, den Tag mit Schlangen-Hopping zu verbringen und quatschen und lachen
beim Anstehen, als gäbe es nichts Schöneres.
Unbestrittener Höhepunkt im positiven Sinne aber war die
Performance der Zwölftklässler. Die Jungs als Mädchen verkleidet und umgekehrt
tanzten sie ein durchchoreographiertes, abwechslungsreiches Stück von 35
Minuten. Echt beindruckend. Dafür habe ich gern um die fünf Geschichtsstunden
im Vorfeld geopfert.
Und weil die Schule so gern und so groß feiert, wurde bei
der Eröffnung der Jogos Humboldt
gleich noch einer rausgehauen. Die Jogos
sind die jährlichen Sportwettkämpfe, an denen Schülerteams aus ganz Brasilien,
aber auch Argentinien, Ecuador, Kanada und manchmal auch aus Deutschland sich
über zwei Wochen in den verschiedensten Disziplinen messen. Die Eröffnungsfeier
wurde musikalisch mit Orchester und Chor, bei dem ich auch mitwirkte, untermalt.
Das klang wirklich toll (trotz oder wegen mir?), bis auf die deutsche
Nationalhymne. Wir hatten das vorher nicht geprobt und nur sechs Schüler, eine
Kollegin und ich fanden sich bereit, das Lied der Deutschen zu singen. Leider
waren die Streicher zu langsam und leise und unser kleiner Gefangenenchor genau
das Gegenteil. Sarah Connor hätte sich im Grabe umgedreht, wäre sie schon
verstorben und hätte sie die Nationalhymne 2005 damals nicht auch verhauen. So befinden
wir uns also plötzlich in einer Tradition mit selbiger, wie schön.
Der Einmarsch der über 50 teilnehmenden Teams mit
Schildträgern war indes wieder olympiareif, eine Tanzchoreografie von ca. 60
Schülern allen Alters, die sich mit der WM-Eröffnung messen kann, ein
brasilianischer Profi-Leichtathlet als Gastredner und – unglaublich – der
Einzug der Fackelläufer mit Entzündung des humboldtschen Feuers. Etwas beschämt
erinnerte ich mich an unsere bescheidenen Ausrichtungen der Bundesjugendspiele
und Spieletage, obwohl mir schon klar ist, dass hier ganz andere Dinge
personell und finanziell möglich sind. Aber ich habe jetzt schon viel
Inspiration für Deutschland bekommen.
Zwischen diesen Ereignissen hatte Emily mit ihrer
Muttersprachler-Fördergruppe ihre Zirkusshow vor den ersten Klassen. Stolz saß
ihr kleiner Bruder in der ersten Reihe und sah, mit welcher
Selbstverständlichkeit sich Emily vor die 60 Kinder stellte und ihre
Zaubertricks vorführte. Apropos Muttersprache: Ich bin mittlerweile so sicher
im Portugiesischen, dass ich ohne mit der Wimper zu zucken im Café einen Löffel
bestellt habe, woraufhin mich der Ober wider Erwarten fragend ansah, bis ich
dann nach mehrerem Hin und Her feststellte, dass ich ein Häschen (coelho) statt
eines Löffels (colher) bestellt hatte. Da kann man auch mal fragend gucken.
Der eigentliche Höhepunkt der letzten Wochen sollte
(eigentlich) das Eröffnungsspiel der Copa America mit Brasilien vs. Bolivien
werden. Fußball in Brasilien war ein Pull-Faktor für Lena, aber auch für mich. Mittags
wurden in der Schule gleich fünf altgediente deutsche Kollegen (natürlich ausgiebig,
denn klein geht nicht) verabschiedet und so begann dann ein lockeres Eintrinken.
Der befürchtete Generalstreik in São Paulo störte deutlich weniger als erwartet
den Verkehr, sodass wir schon am Nachmittag in Stadionnähe in einer Kneipe
saßen. Vom Beginn der Copa America war in den letzten Tagen gar nichts zu
merken. Am Tag vorher war ich noch in einer großen Shopping Mall, um mir ein
Trikot zu kaufen (falls ich doch noch eingewechselt werden sollte). Das war
vielleicht ein Akt. Von ca. 100 Läden hatte genau einer Trikots. Wo ist die
legendäre Fußballbegeisterung? Auch in der Kneipe war es zunächst sehr ruhig.
Aber eines hat sich mal wieder bestätigt: die Brasilianer sind eher so die
Last-Minute-Menschen. Mit zunehmender Dunkelheit wurden die Straßen (und
Menschen) rund herum immer voller, überall tummelten sich Samba-Gruppen in
einer feiernden Menschentraube. Man spürte plötzlich diese Freude und war
mitgerissen von den neuen Gesängen und weniger Gebrülle, wie im guten alten
Europa. Eingehüllt in Pyros wälzte sich das Meer von gelben Trikots dann gen
Stadion und skandierte gern auch mal „Messi não, Messi não, Messi não não não“.
Und neben mir Heiko, ein Referent aus Schwerin, der für ein paar Tage in São
Paulo weilte und mit dem ich hier im Schatten des Estadio Morumbi ein paar Heimatmomente hatte. Es war mittlerweile eine knappe Stunde vor
Spielbeginn und ich ärgerte mich, dass wir jetzt mit den tausenden von
Last-Minute-Brasilianern gleichzeitig ins Stadion gingen, was natürlich wieder
in endlosen Schlangen endete. Aber auch die Hürde war irgendwann genommen und
so stand ich zum ersten Mal in Brasilien in einem Stadion, einem richtig klassischen,
asketischen, weiten Rund ohne Dach. Es folgte eine nette Eröffnungsfeier, die
mit der aus unserer Schule durchaus mithalten konnte, und schon ging es los.
Jetzt würde ich dramaturgisch gern noch etwas draufpacken,
aber der Rest des Abends war tatsächlich eher enttäuschend. Keine Fan-Gesänge,
einseitige Party ohne große Höhepunkte, ein Elfmeter-Geschenk für Brasilien mit
ungefähr 30 Sekunden Jubel (ohne Musikeinspieler) und nach dem Abpfiff waren
die Spieler und Zuschauer gleichermaßen schnell aus dem Stadion verschwunden,
denn auf eine Ehrenrunde der Spieler hätte man vergeblich gewartet. Die
Stimmung im Stadion stand im scharfen Kontrast zur ausgelassenen Stimmung auf
der Straße und vielleicht saßen einfach die falschen Leute im Stadion. Diejenigen
nämlich, die sich das leisten können und Brasilien die höchsten
Eintrittseinnnahmen in einem Spiel in der gesamten brasilianischen
Fußballgeschichte beschert haben (Ich habe als Ortslehrkraft nur den halben Eintritt bezahlt und
musste trotzdem 68,- Euro für den obersten von drei Rängen bezahlen). Auch ein
Spiegel der Gesellschaft, gerade hier in Morumbi, wo Luxus-Condominios mit
Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach sich direkt neben Favelas auftürmen.
Nichtsdestotrotz scheint der frühere Glanz der Seleção verblasst und das
Auftreten der Mannschaft in den letzten Jahren, insbesondere des speziellen
Stürmers, hat wohl tatsächlich zu einem Zerwürfnis zwischen Mannschaft und Volk
geführt, zu dessen Heilung es einiger Steigerung seitens der Mannschaft bedarf.
So, nun aber genug. Noch zwei Wochen Schule und dann haben
wir die ersten großen Ferien. Wir lesen uns wieder aus dem Nordosten. Tschau!
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